Künstler*Innen

Rossell Santillán, Gabriel

Obsidiano, 2006
Courtesy: Ifa Galerie-Stuttgart, Foto: Gabriel Rossell Santillán

Gabriel Rossell Santilláns Arbeit ist das Ergebnis einer Auseinandersetzung mit Bildern, die den Prozess der Rekonstruktion von Erinnerung ins Zentrum stellen. So ist das Thema der „Rückkehr der Erinnerung (Erinnerungen)“ in seiner Arbeit zentral. Seitdem sich der Künstler in Proyecto Wixárika mit der Indigenen Wixárika-Gemeinschaft in Mexiko beschäftigt, hat sich ein tiefgehender Gedankenprozess über die Rückkehr der „Ordnung der Dinge“ (1) in Bewegung gesetzt. Im Rahmen dieses Projektes liegt die Betonung auf der Rückkehr der „Ordnung der Dinge“, die von einem Bild dargestellt werden kann, und nicht auf der Rückkehr der Dinge selbst.(2) So verfolgt das Wixárika-Projekt das Ziel, eine Methode – einen Weg – zu entwickeln, um den Wixáritari Gemeinschaften in Mexiko Wissen und Erinnerungen über heilige Zeremonien zurückzugeben.
Über dieses Projekt hinaus war das Thema „Beziehungen zwischen Dingen“ – die Wiederverbindung von Opfergaben und zeremoniellen Gegenständen mit der Gemeinschaft – in seinem Werk immer gegenwärtig. So auch in seiner jüngsten Arbeit: Die Installation Obsidiano (2006) denkt über die Zurschaustellung einer Zeremonie nach, die nicht unter direktem Licht betrachtet werden sollte. Der Künstler verwendet hier verschiedene Projektionsflächen (einen Laptop, einen Obsidian), um heilige Gesänge semitransparent vermittelt zu zeigen und so zu verhindern, dass die Zeremonie linear kontextualisiert und von der Moderne absorbiert wird. In Die Entstehungsgeschichte der Sonne (2008) zeigt Rossell Santillán eine Videoarbeit über Wissensvermittlung, indem das Bild durch Holz gefiltert wird. Während ein Mann den zeremoniellen Gesang (Mythos) erzählt, stickt seine Frau den Gesang und hält ihn so in textiler Form – mithilfe von Fäden und Farben – für zukünftige Generationen fest. Diese Videoinstallation verwebt Erinnerungen, Erzählung, zeremonielle Gesänge (Mythos), Textil, Stickerei, Holz sowie weibliche und männliche Praktiken und Elemente miteinander. Die Videoarbeit Los Lobos. Zweites Zusammentreffen und Befragung der Wixárika Opfergabe in Berlin (2017–2022) präsentiert Gespräche zwischen mehreren Mara’akate, dem Künstler und Personal des Museums in Berlin-Dahlem, die auf zwei Zeremonien folgten. In dem Museum, wo alle TeilnehmerInnen neu benannt wurden, suchten Mara’akate nach Bildern ausgestorbener Tiere und Pflanzen sowie nach zeremoniellen Gegenständen mit Zeichnungen, Mustern und/oder Techniken, die Informationsträger textiler Methoden sein könnten, die in den Wixárika-Gemeinschaften nicht mehr vorhanden sind. Diese Suche resultierte in dem Projekt, ein Büchlein über diese ausgelöschten Tiere, Pflanzen und Opfergaben, die sich in Berlin befinden, sowie über die ausgelöschten Methoden für nachkommende Generationen zu erstellen. Das Video zeigt zudem, wie die Mara’akate zeremonielle Gegenstände im Museum neu ordnen und erklären, warum es so wichtig ist, die richtige Ordnung (materieller) Dinge beizubehalten. Ihrem Wissen nach ist Ordnung wichtig für das Wohlbefinden der Menschheit. Die Videoarbeit Die Besteigung des Quemado (2012) zeigt eine Prozession zum heiligen Berg Quemado, auf dem Mara’akate aus verschiedenen Provinzen ihre Ahnen um Rat zum Umgang mit einem kanadischen Bergbauunternehmen gefragt haben, das in Matehuala und Wirikuta Gold gefunden hat. Den Mara’akate geht es dabei nicht nur um heilige Berge, sondern um die Heiligkeit der Erde, des Winds, Wassers und von Mineralien. Gold ist beispielsweise wichtig, um die Stabilität der Erde aufrechtzuerhalten und sollte daher nicht abgebaut werden. Der zweite Teil der Videoarbeit zeigt Dionisios ersten Besuch im Museum in Berlin-Dahlem und die erste Zeremonie, nach der Mara’akame Dionisio sagte, „die Objekte waren bereits tot“.
Die Wandteppiche für Flowers Beneath our Feet (Blumen unter unseren Füßen), eine Arbeit, die Gabriel Rossell Santillán in Zusammenarbeit mit KünstlerInnen wie Karen Michelsen Castañón, Lizza May David, Keiko Kimoto, Antonio Paucar, Luis Ortiz und Luis David Cruz Mendoza geschaffen hat, stellen den Prozess dar, Teile von Bildern zu sammeln und Bilder zu rekonstruieren – in diesem Fall geht es um Darstellungen aus der Zeit vor der westlichen Kolonisierung. Dieses Sammeln, Zusammenbringen und Rekonstruieren ist ein Statement des Künstlers darüber, dass die Weltordnung nicht nur existiert hat, sondern durch das koloniale Unternehmen im 16. Jahrhundert in Stücke zerschmettert wurde. Indem Bilder und Bedeutungen gesammelt und miteinander verbunden werden, kehrt die Erinnerung als „Ordnung der Dinge“ in der Arbeit des Künstlers zurück und ermöglicht uns Zugang zu Bildern und Wissen über Interkulturalität, interspirituelle Gespräche und Beziehungen zwischen menschlichen und nichtmenschlichen Entitäten, die als solche nicht mehr vorhanden sind. Im Werk von Gabriel Rossell Santillán kann die „Ordnung der Dinge“ wieder dazu zurückkehren, historische Narrative infrage zu stellen. In jedem Fall, so sagte der Künstler, spielt auch Vorstellungskraft eine Rolle, wenn es darum geht, dem gesamten Prozess der Erinnerungsrekonstruktion eine fertige Form zu verleihen. Das bedeutet, dass nur wenn bestimmte Teile einer früheren Arbeit (oder „Ordnung“) wiederentdeckt werden können (wie im Fall der Moghul-Tapisserie aus dem 16. Jahrhundert), verlorene oder verschwundene Stücke – heute – durch Kreativität und wilde Imagination wieder miteinander verbunden werden können.

(1) Dies ist mit väterlichen und mütterlichen Ahnen sowie deren Beziehungen zu Opfergaben und zeremoniellen Elementen wie nichtmenschlichen Subjekten, Flüssen und Bergen verbunden.
(2) Was wir bei den Wixárika „ethnologische Objekte“ nennen, sind de facto Opfergaben und zeremonielle Gegenstände.

Text: Andrea Meza Torres

Gabriel Rossell Santilláns Arbeit ist das Ergebnis einer Auseinandersetzung mit Bildern, die den Prozess der Rekonstruktion von Erinnerung ins Zentrum stellen. So ist das Thema der „Rückkehr der Erinnerung (Erinnerungen)“ in seiner Arbeit zentral. Seitdem sich der Künstler in Proyecto Wixárika mit der Indigenen Wixárika-Gemeinschaft in Mexiko beschäftigt, hat sich ein tiefgehender Gedankenprozess über die Rückkehr der „Ordnung der Dinge“ (1) in Bewegung gesetzt. Im Rahmen dieses Projektes liegt die Betonung auf der Rückkehr der „Ordnung der Dinge“, die von einem Bild dargestellt werden kann, und nicht auf der Rückkehr der Dinge selbst.(2) So verfolgt das Wixárika-Projekt das Ziel, eine Methode – einen Weg – zu entwickeln, um den Wixáritari Gemeinschaften in Mexiko Wissen und Erinnerungen über heilige Zeremonien zurückzugeben.
Über dieses Projekt hinaus war das Thema „Beziehungen zwischen Dingen“ – die Wiederverbindung von Opfergaben und zeremoniellen Gegenständen mit der Gemeinschaft – in seinem Werk immer gegenwärtig. So auch in seiner jüngsten Arbeit: Die Installation Obsidiano (2006) denkt über die Zurschaustellung einer Zeremonie nach, die nicht unter direktem Licht betrachtet werden sollte. Der Künstler verwendet hier verschiedene Projektionsflächen (einen Laptop, einen Obsidian), um heilige Gesänge semitransparent vermittelt zu zeigen und so zu verhindern, dass die Zeremonie linear kontextualisiert und von der Moderne absorbiert wird. In Die Entstehungsgeschichte der Sonne (2008) zeigt Rossell Santillán eine Videoarbeit über Wissensvermittlung, indem das Bild durch Holz gefiltert wird. Während ein Mann den zeremoniellen Gesang (Mythos) erzählt, stickt seine Frau den Gesang und hält ihn so in textiler Form – mithilfe von Fäden und Farben – für zukünftige Generationen fest. Diese Videoinstallation verwebt Erinnerungen, Erzählung, zeremonielle Gesänge (Mythos), Textil, Stickerei, Holz sowie weibliche und männliche Praktiken und Elemente miteinander. Die Videoarbeit Los Lobos. Zweites Zusammentreffen und Befragung der Wixárika Opfergabe in Berlin (2017–2022) präsentiert Gespräche zwischen mehreren Mara’akate, dem Künstler und Personal des Museums in Berlin-Dahlem, die auf zwei Zeremonien folgten. In dem Museum, wo alle TeilnehmerInnen neu benannt wurden, suchten Mara’akate nach Bildern ausgestorbener Tiere und Pflanzen sowie nach zeremoniellen Gegenständen mit Zeichnungen, Mustern und/oder Techniken, die Informationsträger textiler Methoden sein könnten, die in den Wixárika-Gemeinschaften nicht mehr vorhanden sind. Diese Suche resultierte in dem Projekt, ein Büchlein über diese ausgelöschten Tiere, Pflanzen und Opfergaben, die sich in Berlin befinden, sowie über die ausgelöschten Methoden für nachkommende Generationen zu erstellen. Das Video zeigt zudem, wie die Mara’akate zeremonielle Gegenstände im Museum neu ordnen und erklären, warum es so wichtig ist, die richtige Ordnung (materieller) Dinge beizubehalten. Ihrem Wissen nach ist Ordnung wichtig für das Wohlbefinden der Menschheit. Die Videoarbeit Die Besteigung des Quemado (2012) zeigt eine Prozession zum heiligen Berg Quemado, auf dem Mara’akate aus verschiedenen Provinzen ihre Ahnen um Rat zum Umgang mit einem kanadischen Bergbauunternehmen gefragt haben, das in Matehuala und Wirikuta Gold gefunden hat. Den Mara’akate geht es dabei nicht nur um heilige Berge, sondern um die Heiligkeit der Erde, des Winds, Wassers und von Mineralien. Gold ist beispielsweise wichtig, um die Stabilität der Erde aufrechtzuerhalten und sollte daher nicht abgebaut werden. Der zweite Teil der Videoarbeit zeigt Dionisios ersten Besuch im Museum in Berlin-Dahlem und die erste Zeremonie, nach der Mara’akame Dionisio sagte, „die Objekte waren bereits tot“.
Die Wandteppiche für Flowers Beneath our Feet (Blumen unter unseren Füßen), eine Arbeit, die Gabriel Rossell Santillán in Zusammenarbeit mit KünstlerInnen wie Karen Michelsen Castañón, Lizza May David, Keiko Kimoto, Antonio Paucar, Luis Ortiz und Luis David Cruz Mendoza geschaffen hat, stellen den Prozess dar, Teile von Bildern zu sammeln und Bilder zu rekonstruieren – in diesem Fall geht es um Darstellungen aus der Zeit vor der westlichen Kolonisierung. Dieses Sammeln, Zusammenbringen und Rekonstruieren ist ein Statement des Künstlers darüber, dass die Weltordnung nicht nur existiert hat, sondern durch das koloniale Unternehmen im 16. Jahrhundert in Stücke zerschmettert wurde. Indem Bilder und Bedeutungen gesammelt und miteinander verbunden werden, kehrt die Erinnerung als „Ordnung der Dinge“ in der Arbeit des Künstlers zurück und ermöglicht uns Zugang zu Bildern und Wissen über Interkulturalität, interspirituelle Gespräche und Beziehungen zwischen menschlichen und nichtmenschlichen Entitäten, die als solche nicht mehr vorhanden sind. Im Werk von Gabriel Rossell Santillán kann die „Ordnung der Dinge“ wieder dazu zurückkehren, historische Narrative infrage zu stellen. In jedem Fall, so sagte der Künstler, spielt auch Vorstellungskraft eine Rolle, wenn es darum geht, dem gesamten Prozess der Erinnerungsrekonstruktion eine fertige Form zu verleihen. Das bedeutet, dass nur wenn bestimmte Teile einer früheren Arbeit (oder „Ordnung“) wiederentdeckt werden können (wie im Fall der Moghul-Tapisserie aus dem 16. Jahrhundert), verlorene oder verschwundene Stücke – heute – durch Kreativität und wilde Imagination wieder miteinander verbunden werden können.

(1) Dies ist mit väterlichen und mütterlichen Ahnen sowie deren Beziehungen zu Opfergaben und zeremoniellen Elementen wie nichtmenschlichen Subjekten, Flüssen und Bergen verbunden.
(2) Was wir bei den Wixárika „ethnologische Objekte“ nennen, sind de facto Opfergaben und zeremonielle Gegenstände.

Text: Andrea Meza Torres

Obsidiano, 2006
Courtesy: Ifa Galerie-Stuttgart, Foto: Gabriel Rossell Santillán